Eine Revolution in der europäischen Sitzkultur

Als der Earl von Chesterfield Philip Dormer Stanhope den schottischen Architekten und Designer Robert Adam mit der Konstruktion eines bequemen und repräsentativen Sitzmöbels betraute, das ein aufrechtes Sitzen ermöglichte, löste dies eine Revolution in der europäischen Sitzkultur aus. Vorher hatte man in den gehobenen Kreisen Europas vorzugsweise im Liegen „gesessen“. Das standesgemäße Sitzmöbelstück war nämlich das Chaiselongue, eine Weiterentwicklung des römischen Liegesofas Triclinium.


Online seit: 29.01.2019 | Themenbereich: Innenausstattung
Eine Revolution in der europäischen Sitzkultur

Der erste Ohrensessel

Insgesamt war der neue Sessel von Dormer Stanhope, den er im Jahre 1720 erschuf, eine überaus raffinierte Konstruktion. Sie sah nicht nur optisch gut aus und bestach durch einen erlesenen Sitzkomfort sowie durch eine überbordende Funktionalität. Der Chesterfield-Sessel, wie der Prototyp des ersten Ohrensessels der Welt genannt wurde, bestach auch durch Raffinessen, die der Gesprächskultur beim Grafen in vielerlei Hinsicht entgegenkam. Im Herrenhaus des Grafen saßen sich die Gesprächspartner auf ihren Ohrenbackensessel gegenüber. Wie damals üblich, herrschte Zugluft, während ein loderndes Kaminfeuer für Wärme sorgte. Heute hat sich die Vielfalt der Modelle beim Ohrensessel natürlich erheblich erweitert.

 

Eine raffinierte Konstruktion

Kennzeichnend für den ersten Ohrensessel waren die ausgeprägten „Ohrenbacken“, die den Sitzenden nach drei Seiten hin abschirmten. Die Wärme des Kamins blieb in diesem Stauraum gut erhalten, während Zugluft und akustische Störgeräusche aus dem Hintergrund ferngehalten wurden. Der Gesprächspartner konnte sich voll auf das Gespräch konzentrieren und sein Haupt je nach Bedarf an den „Ohrenbacken“ anlehnen. Das robuste und stattliche Erscheinungsbild des Ohrensessels wurde mit ästhetischen Finessen aufgewertet. Dazu gehörten die mächtigen geschwungenen Lehnen des Sessels, die Ziernadeln sowie der kapitonierte Lederbezug, der seitdem als Knopfheftung in der Sessel- und Sofaästhetik Einzug hielt.

 

Die weitere Entwicklung des Ohrensessels

Das Modell von Robert Adam kam an, sodass der Ohrenbackensessel zu einem britischen Exportschlager wurde und sich in allen europäischen Nationen verbreitete. Auch in Deutschland, dem Land der ausgeprägten Innerlichkeit, war der Ohrensessel populär. Er wurde nicht nur als Ausgangspunkt für gemütliche Sitzungen geschätzt, sondern auch als Wohlfühloase im eigenen Zimmer. Hier konnte sich der Besitzer gemütlich zurücklehnen und seine Seele bei einer Tasse Kaffee und einer guten Lektüre baumeln lassen.

Trotz seiner gehaltvollen Geschichte erfreut sich der Ohrenbackensessel auch heute noch großer Beliebtheit. Er ist ein ewig junger Klassiker, der unterschiedlichen Geschmäckern entgegenkommt. Als traditionelles Modell ist er ebenso zu haben wie als modernes Kultobjekt in der Form eines Egg Chairs oder als extravaganter Lounge-Sessel. Dies sind nur Beispiele von vielen Ideen. Insgesamt bot der Ohrensessel für Möbeldesigner eine dankbare Projektionsfläche, die sich an diesem Objekt schöpferisch austoben konnten.

 

Vielfalt auch beim Material

Wie bei der Form, gibt es auch beim Material des Ohrensessels heute eine breite Vielfalt. Es muss nicht mehr zwangsläufig der kapitonierte Lederbezug von Robert Adam sein, auch wenn Puristen nicht auf diese verzichten möchten. Ein Stoffbezug ist zwar längst nicht so pflegeleicht wie Leder und Flecken können schwerer wieder entfernt werden. Dafür verspricht ein Stoffbezug einen größeren Sitzkomfort und ist das weichere und wärmere Material. Weitere Bezüge können aus Samt sein, um die sprichwörtliche Weichheit zu erzeugen. Wer es hingegen in seinem Ohrenbackensessel kuschelig warm haben möchte, ist mit Schaffell gut bedient.

 

Weitere Ideen für eine noch größere Funktionalität

Wie erwähnt, ist der Ohrenbackensessel eine Investition, die dem Besitzer ein eigenes kleines Reich im eigenen Zuhause ermöglicht. Da der Ohrensessel zumeist eine Investition für das ganze Leben ist, scheuen manche Kunden weder Kosten noch Mühen und sind bereit, durchaus mehrere tausend Euro für ein Modell zu investieren, das die eigenen Träume verwirklicht. Tatsächlich ist der Ohrensessel komplex genug, dass sich seine Funktionsvielfalt erweitern lässt. Auf einem Ohrensessel mit Hocker kann jeder ihn noch besser zum Schlafen nutzen. Mit Schaukelkufen wird der Ohrensessel zum Schaukelstuhl, während er sich durch ein Drehkreuz in einen Drehstuhl verwandelt. Je nachdem, was die eigenen Vorstellungen sind, lässt sich mit einem Ohrenbackensessel sehr viel machen.


Bildquelle (c) Hans Braxmeier | pixabay.com

 


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